Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Business Insider veröffentlicht.
Wer von euch hat in letzter Zeit den Satz des Pythagoras angewendet? Ich würde lachen, wenn sich jemand angesprochen fühlt. Ich zumindest nicht — auch, wenn ich ihn nie vergessen werde. Ähnlich wie einen Radio-Hit, den ich nicht mag, aber im Schlaf mitsinge. Ähnlich wie vieles, das ich in der Schule in mein Hirn brannte und heute selten brauche.
Doch was ist lernenswert? Und was bringt uns als Gesellschaft weiter? Gerade jetzt, wenn die Welt über ein „New Normal“ nach der Pandemie philosophiert, braucht es mehr als „old school“-Ansätze. Deshalb ein paar Vorschläge, mit denen jeder von uns heute noch etwas anfangen kann.
Vishen Lakhiani lehrt Achtsamkeit, Produktivität oder Bio-Hacking
„Ein wichtiger Schritt wäre es schon mal, herauszufinden, ob das, was du machst, auch mit dem übereinstimmt, wer du bist.” Ich wünschte, solche Worte hätte einer meiner Lehrer mir damals gesagt. Doch sie stammen von Vishen Lakhiani, Mitbegründer von Mindvalley.
Mit seinem Unternehmen verschreibt er sich der spirituellen und persönlichen Bildung sowie dem lebenslangen Lernen. Statt Algebra und Goethe geht es in seiner Online-Akademie um Achtsamkeit, Produktivität oder Bio-Hacking. Sein kürzlich erschienenes Buch „The Buddha and the Badass“ setzt sich vor allem mit dem Weg zum erfüllten Arbeiten auseinander und stürmte binnen weniger Wochen die New-York-Times-Bestseller-Liste.
Übersetze ich seine Worte in ein Unterrichtsfach, heißt es: Selbstreflexion. Wohin wollen wir überhaupt im Leben — und was soll am Ende dabei rauskommen? Eine Frage, auf die wahrscheinlich der weiseste Gelehrte keine endgültige Antwort hat. Trotzdem gilt es, danach zu suchen und sich zu fragen: Was tut mir wirklich gut?
Knallharte Selbstanalyse, um im Einklang mit sich zu arbeiten
Als ich mit Anfang zwanzig auf meiner Karriereleiter als Journalistin höher kletterte, sprach von außen betrachtet nichts dagegen, genauso weiterzumachen. Ich arbeitete in einer renommierten Nachrichtenagentur, sahnte Titel ab und reichlich Anerkennung. Trotzdem wurde irgendwann eine Stimme in mir laut, der all das egal war.
Die mich fragte: Für wen machst du das alles? Willst du von neun bis fünf in ein Büro rennen, getrieben von Deadlines und Druck, der dich krank macht? Die Stimme zwang mich dazu, mir zuzuhören: indem ich anfing zu meditieren, Tagebuch zu führen, Gedanken aufzuschreiben. Ich führte Listen, was mir im Alltag an meinem Job wirklich Spaß machte. Knallharte Selbstanalyse. Bis ich irgendwann kündigte.
„Unsere Seele hat nie eingewilligt, 80 Stunden die Woche in einem Job zu arbeiten, für den sie keine Passion hat”, sagt auch Lakhiani. Sein Ansatz: Nur wer sich mit sich selbst auseinandersetzt, kann überhaupt erst tiefere und bedeutendere Beziehungen mit den Menschen eingehen, mit denen er zusammenarbeitet. Dann wäre es möglich, im Einklang mit sich zu arbeiten — und die eigene Identität neu zu programmieren.
Man muss nicht die Welt retten, um ein sinnvolles Leben zu führen
Ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass ein erfüllender Job zu einem glücklichen Leben beiträgt. Und ihr wisst ja: Wir haben nur eins. Doch was es an dieser Stelle ebenso zu verstehen gilt: Der “Purpose”, den viele gerade suchen, muss nicht zwangsläufig bedeuten, die Welt von Grund auf zu revolutionieren.
Mit neun Jahren schrieb ich einen Brief an den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder: Ich wolle Umweltaktivistin werden. Ich schrieb ihm, dass ich angefangen hatte, Kaulquappen zu retten (und sie zum Leidwesen meiner Eltern in der Garage zu quakenden Fröschen großzuziehen). Ich schrieb ihm, dass ich Unterschriften gegen Pelze gesammelt und mich bei Greenpeace angemeldet hatte. Was ich noch machen könnte, wollte ich wissen.
Ich bekam sogar eine Antwort von Schröders Assistentin, ich erinnere mich noch genau daran, wie ich stolz meinen Brief in der Schule vorlesen durfte. Was diese Anekdote zeigt, ist das hier: Lange Zeit und schon mit neun Jahren dachte ich, wenn ich meinem Leben einen Sinn geben will, müsse ich riesige Schritte tun oder die eine Organisation gründen, die alle Probleme auf einmal löst.
Zweiter Vorschlag fürs Curriculum: Lernen, netter mit sich zu sein. Vor allem, indem wir den Anspruch an uns selbst senken, der uns in ein sich immer schneller drehendes Karussell von Vergleichen und Wettbewerben steckt. Kein leichtes Vorhaben, wenn man bedenkt, dass wir in einer Gesellschaft leben, die uns an genau diesen Erfolgen misst.
Veränderung stellen wir uns oft als gigantische Aufgabe vor — gerade jetzt in der Corona-Krise. Nachdem die Klima-Debatte wochenlang Nebensache war, wollen wir sie jetzt umso mehr angehen. Nachdem wir wochenlang auf Distanz gelebt haben, wollen wir jetzt umso schneller die Basis für ein neues Miteinander gestalten. Doch vor diesen Zielen scheinen immer unüberwindbare Hindernisse zu stehen. Sie wirken unüberschaubar.
Schon kleine Veränderungen können die Welt viel besser machen
Also denkt mal darüber nach: „Außergewöhnlich zu sein und Außergewöhnliches zu machen bedeutet für mich nicht, dass du der nächste weltverändernde Technologe sein musst”, sagt Gründer Vishen Lakhiani. Bedeutend könne es etwa schon sein, als Vater zu Hause zu bleiben, nicht zu denken, dass der Mann unbedingt arbeiten gehen müsse.
Dieser Vater könne sich engagiert um die Kinder kümmern und ihnen die bestmögliche Kindheitserfahrung ermöglichen. Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaft gehen nur vier von zehn Vätern in Elternzeit — und von denen kaum jemand länger als zwei Monate. „Auch das trägt zu einer besseren Welt bei, das ist außergewöhnlich.” Ein Gruß an all die ambitionierten Väter da draußen, bleibt doch auch einfach mal zu Hause!
Last but not least müssen wir lernen, den Status Quo zu hinterfragen. Nennen wir das Fach: Systemkritik. „Wir halten die Schule für den Ort, an dem Kindern alles beigebracht wird, was sie später für ein gelingendes Leben brauchen und schreiben ihr damit immense Bedeutung zu. Dabei vermittelt Schule in ihrer jetzigen Form keine der Fertigkeiten, derer es in der veränderten Welt von morgen bedarf“, sagte Gerald Hüther, Hirnforscher und Vorstand der Akademie für Potenzialentfaltung im Interview mit Focus.
Schulen sollten uns lehren, aus Schubladen-Denken auszubrechen
Anstatt hinzuschauen und den Veränderungen nachzugehen, beruhige sich die überwiegende Mehrheit der Menschen selbst — indem sie sich einredeten, das sei doch alles nicht so schlimm und würde sich schon wieder geben. Studien zum Mathematikunterricht ergaben: in der Regel bleiben nur die ersten fünf Schuljahre im Kopf hängen, 85 Prozent vergessen wir größtenteils wieder.
Andere Dinge, die wir im Leben lernen, scheinen sich dagegen regelrecht in unsere Hirnrinde zu brennen. Ganz gleich, ob sie Sinn ergeben oder nicht: Wir befolgen sie, geben sie weiter und stellen sie selten infrage. Lakhiani benutzt dafür ein grandioses Wort: “Brules”— zusammengesetzt aus “Bullshit” und “Rules”. „Ich bin Europäer, habe in Malaysia, einem größtenteils muslimischen Land, gelebt, wurde als Hindu geboren und getauft“, sagt Lakhiani. Er sei in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der es als falsch angesehen wurde, jemanden anderen Glaubens zu heiraten.
Schulen sollten uns lehren, aus unserem Schubladen-Denken auszubrechen. Sie sollten ein Denken ermöglichen, das nicht nur in den Strukturen und Regeln funktioniert, in die die Menschen hineingeboren wurden, sagt Lakhiani.
Was habt ihr noch nie hinterfragt? Ich für lange Zeit etwa, dass ich hart arbeiten muss für Erfolg. Dass es dazu gehört, ständig erreichbar zu sein, am besten sieben Tage die Woche. Dass Sicherheit im Leben bedeutet, in einer Festanstellung zu sein und ein solides Einkommen monatlich auf dem Konto zu haben. Wenn ihr mich heute fragt: Bullshit.
Ein großes Klassenzimmer voller inspirierender Persönlichkeiten, die mit der Zeit zu ihren Lehrern wurden: So sieht unsere Autorin Laura Lewandowski die Welt. Für die „Meet your Mentor“-Sonderedition ihrer Kolumne spricht sie mit jenen, die sie besonders zu neuen Denkansätzen anregen. Ihre Leitfrage: Wie kann ich das Gelernte auf mich anwenden?